Wolf und Bär – Zwei Normen
Durch unsere langjährige Erfahrung in der Systemischen Familientherapie müssen wir davon ausgehen, dass es grundsätzlich zwei Typen von Menschen gibt. Um sie näher zu erklären, haben wir ihnen Namen und Profile gegeben: Wolf und Bär. Sie teilen sich in friedlicher Koexistenz einen Lebensraum. Dabei haben sie grundverschiedene Sozialsysteme und Überlebensstrategien. Beide Spezies sind aber gleichermaßen für das biologische Gleichgewicht notwendig. Doch wie ticken sie genau? Und was bedeutet das für unser Miteinander?
Typ „Wolf“ – das Rudeltier
Wölfe sind Rudeltiere. Ihr Fokus liegt auf dem Gemeinschaftssystem, denn nur in der Gruppe sichern sie ihr Überleben. Gemeinsam jagen, gemeinsam fressen, klare Rollenverteilung und Einordnung in die Gruppe. Wölfe fühlen sich vor allem im Rudel wohl und haben das Bedürfnis, sich in seine Dienste zu stellen. Die Wölfe sind die bestimmende Macht in unserer Gesellschaft – denn die Evolution hat ihre sozialen Fähigkeiten zum Überleben der Spezies Mensch ganz besonders benötigt. Der starke Gruppenzusammenhalt war die Basis, um sich feindliche Lebensräume zu erobern. Es ziehen alle „an einem Strang“, der Einzelne zählt weniger, die Gruppe und ihre Regeln sind wichtiger. Wer den Regeln widerspricht, wer sich nicht einfügt, gefährdet das Gemeinwohl und muss „eingeordnet“ werden, um wieder zu funktionieren. Und das macht das „Prinzip Wolf“ auch restriktiv: Es errichtet ein alles durchdringendes Normsystem, wo Anderssein oft als Abweichung begriffen, abgestraft und korrigiert wird. Viele Therapien basieren auf diesem Ansatz, ohne dass sich die Handelnden dessen bewusst sind.
Typ „Bär“ – der Einzelgänger
Bären haben eine ganz andere Überlebensstrategie. Jeder Bär sorgt selbst für sich. Dabei ist er einerseits mehr Gefahren ausgesetzt, besitzt andererseits auch größere individuelle Kräfte. Als Einzelkämpfer entscheidet der Bär schnell und selbstbezogen. Denn ohne Gruppenanschluss muss er sein Überleben eigenverantwortlich jeden Tag und in jeder Situation allein managen. Die sozialen Bindungen der Bären sind nicht so zahlreich, können aber -vor allem zum eigenen Nachwuchs- besonders eng sein. Auch der Bärencharakter spielt in der Evolution der Menschheit eine große Rolle: zum Beispiel das kluge Nutzen vieler Ressourcen aus der Natur, das Erschließen neuer Nahrungsquellen und Überlebensstrategien. Der Bär ist immer wachsam, hat eine sehr feine Wahrnehmung, denn niemand anderes passt auf ihn auf. Er sucht sich in einer sich verändernden Umwelt neue Möglichkeiten der Selbstbehauptung und entwickelt große Kräfte, wenn er in die Enge getrieben wird. Deshalb passiert es häufig, dass Bären-Menschen sich mit enormer Wucht gegen die Repressionen der Wolfsgesellschaft wehren, durch Angriff oder Rückzug „auffällig“ werden.
Die Herausforderung
Beide Prinzipien – die der Wölfe und die der Bären – haben ihre Stärken und ihre Schwächen. Und beide haben ihre Berechtigung. Wir möchten beide Welten versöhnen, indem wir helfen, dass wir uns gegenseitig erkennen und verstehen. Die Wolf-Gesellschaft sollte anerkennen, dass es in Ordnung und sogar bereichernd ist, nicht den ausgeprägten Rudelsinn in den Genen zu haben. Es liegt in der Natur der Bären-Menschen, mehr Individualität zu leben. Deshalb benötigen sie ein Umfeld, das sie nicht in starre Gesellschaftskonstrukte und -erwartungen presst. Auch möchten wir den Bären-Menschen ihre eigene Natur nahebringen: Weder sie noch ihre Kinder sind Mangelexemplare, keine defekten Wölfe, sondern intakte Bären, ob sie nun starke Konflikte mit der Gesellschaft haben oder nicht.
Wie Wolf und Bär genau funktionieren, ist Gegenstand unserer Analysen – das ermöglicht Selbsterkenntnis, Selbstreflektion und Selbstheilung auf vielen Ebenen. Wir möchten gemeinsam sehen lernen, in welchem System wir uns bewegen und verorten können. Was die Gesellschaft in unseren Köpfen mit uns macht und wie wir dem entgegendenken und -fühlen können – um jedem Menschen seinen Platz zu geben, den er verdient, ob Wolf oder Bär.