Warum

 

Das Kind gilt als Autist. Vielleicht wird ihm ADS oder ADHS bescheinigt, vielleicht Depression, LRS, Dyskalkulie, emotionale Störung des Kindesalters… Keine Therapie hat bisher nachhaltig geholfen. Alle leiden. Ganz besonders das Kind. Das kann bis zu Suizid-Gedanken führen. Fast jeder Tag ist ein Tag mit Krise. Familien sind am Ende ihrer Kräfte. Und suchen nach Schuld oder Erlösung. Beides gibt es nicht. Weder in Therapien, noch in Erziehungsratgebern. Wir sind in einer Sackgasse. Nur ein Umdenken kann Erleichterung verschaffen.

Was, wenn es gar keine „falschen“ oder „kaputten“ Kinder gäbe?

Immer wieder stoßen wir während unserer Arbeit als aufsuchende Familientherapeuten auf dieselben Phänomene:
1. Die gängigen Erklärungsmodelle sind nicht tragfähig genug. Beispiel „Erziehungsschwierigkeiten“: Selbst, wenn das ein Teil des Problems ist – keine Mutter, kein Vater ist immer angemessen im Erziehungsverhalten. Eine häufig verwendete Kritik ist hier z.B.: „Sie sind nicht konsequent genug!“ Das ist menschlich und reicht kaum aus, um die Wucht der Problematik zu erklären. Beispiel „biografische Traumata“: Auch Trennungen, Verluste, neue Geschwister o.ä. sind in der Regel Ereignisse, die nicht zwingend gesunde Persönlichkeiten grundlegend verändern.
2. Eine Diagnose erfasst nur einen Teil des Verhaltens und der Persönlichkeitsstruktur des betroffenen Menschen. Widersprüche tun sich auf: Die autistische 13-jährige ist außerhalb ihrer Krisen sehr wohl zu Empathie und Mitgefühl fähig und trotz angeblicher Sozialphobie im 1:1-Gespräch offen, kooperativ und interessiert an Freundschaften. Der 16-jährige Schulverweigerer mit ADS-Diagnose kann bei selbst gewählten Aufgaben erstaunlich konzentriert arbeiten. Und der 12-jährige ADHS-Zappelphilipp ist nur in seinen Ausbrüchen aggressiv – und sonst ein außerordentlich liebevoller Sohn und Bruder. Beiden Phänomenen ist gemeinsam, dass ein scheinbar unerklärbares, nicht-therapierbares Verhalten übrigbleibt.
Und so fühlen sich Eltern zurecht nicht wohl bzw. nicht selten hilflos mit den Diagnosen und möglichen Erklärungsmodellen. Auch wir nicht. So haben wir im Laufe der Jahre viele fragwürdige Annahmen über Autismus herausgefiltert. Wir haben immer klarer erkannt, dass bei autistischen Menschen das Gehirn nicht schlechter und zum Teil sogar besser funktioniert, dass sie aber eine intensivere Wahrnehmung haben und mit Reizüberflutung kämpfen. Diese Erkenntnis hat uns vermuten lassen, dass dieses Phänomen auch für viele weitere Diagnosen bzw. herausfordernde Verhaltensweisen die Grundlage bildet.

Die wissenschaftliche Untermauerung durch den Hirnforscher Henry Markram hat uns die letzte Sicherheit gegeben:
Wie genau, erleben wir seit Jahren täglich in vielen Facetten. Und es ist uns ein großes Bedürfnis, unseren Wissensschatz mit allen Menschen zu teilen. Damit wir kommunizieren können, wie es uns geht. Damit wir uns verstehen lernen. Um Missverständnisse und Verletzungen zu verringern, und um Selbstwertgefühl, Selbstliebe und Selbstwirksamkeit zu erhöhen.

Was, wenn es einfach zwei Grundtypen von Menschen gibt? – Was, wenn das gar kein Problem ist?

Unser Menschenbild lässt Anderssein kaum zu, sieht es oft als Defizit und verkennt die Stärken. Wir brauchen ein Menschenbild, das Diversität zulässt. Eine duale Typologie wie Ying und Yang, Mann und Frau, nur ohne strikte Trennung und mit vielen Zwischentönen. Aber wie beschreiben wir das, um betroffenen Familien ein klares, stimmiges Bild als gedankliches Hilfskonstrukt zu geben? So kamen wir auf die Idee einer Tiermetapher. Aber welche? Sind die einen Menschen wie Pinguine und die andern wie Kamele? Ihre Unterschiedlichkeit ist überdeutlich. Doch diese zwei Welten scheinen zu weit entfernt, nicht vereinbar. Wir aber suchten ein Modell der friedlichen Koexistenz in derselben Welt.
Sind die einen Menschen wie Hunde, die anderen wie Katzen? Da ist vieles stimmig: Rudeltier und Solist. Doch das Bild krankt schon daran, dass es domestizierte Naturen sind, die nur künstlich zusammengebracht werden. Und dann kam uns die Idee mit den Wölfen und den Bären: Beides sind Tiere aus der Familie der Hundeartigen, sie bewohnen einen gemeinsamen Lebensraum und kommen -trotz unterschiedlicher Lebensweisen- problemlos miteinander klar. Wölfe sind Rudeltiere und damit stark fokussiert auf die Gemeinschaft. Sie repräsentieren das Ideal unseres Gesellschaftsmodells. Bären dagegen sind eher Einzelgänger mit einem geringeren sozialen Radius. Sie stehen metaphorisch für einen individuelleren Menschentypus, der mehr Rückzug braucht und andere Überlebensstrategien hat. Aus der Familie der Bären stammen unsere im Fokus stehenden „Problemkinder“. Man kann Wölfe nicht zum Winterschlaf zwingen und Bären nicht zur Jagd im Rudel. Aber beide Spezies sind wichtig für das biologische Gleichgewicht. Genauso kann man Bären-Kinder nicht in die wölfischen Gesellschaftsstrukturen pressen, ohne Konflikte zu produzieren. Und genauso wichtig sind die Bären-Naturen für die Gesundheit, die Vielschichtigkeit und den Erfolg unserer Gesellschaft. Das Modell „Wölfe und Bären“ ist unsere Grundlage, ein tieferes Verständnis für unterschiedliche Wahrnehmung und Handlungsmuster der Menschen zu ermöglichen. Wie bist du, und wie bin ich? Wo ist unsere Schnittmenge? Wo treffen wir uns?

Das bedeutet aber auch: Kennst du einen, kennst du einen!

Unsere Arbeit hat das Ziel, Menschen zu entlasten, die denken, dass sie oder ihre Kinder defekt sind. Die denken, dass sie in dieser Gesellschaft niemand versteht. Unsere „Wölfe und Bären“-Typologie soll helfen, sich zuzuordnen und endlich zu erkennen. Dazu brauchen wir keine Diagnosen und keine Therapie. Wie jede Typologie aber ist das alles sehr vereinfacht. Sie soll nicht neue Schubladen schaffen, sondern helfen, scheinbar gesellschaftsschädliche Eigenschaften zu beleuchten und ihre Chancen zu erkennen. Ja, es gibt zwei unterschiedliche Menschentypen, aber eben auch unendlich viele Mischtypen und individuelle Ausprägungen.

Jeder Mensch ist einzigartig, und jeder Mensch ist okay!

Diesem Leitsatz gilt unsere ganze Arbeit, unser ganzes Fühlen. In Liebe und Dankbarkeit für all die Kinder und Eltern, die wir begleiten durften und dürfen. Und mit dem innigen Wunsch, noch ganz viele Familien zu erreichen, denen unser Wissen helfen kann, endlich aus der Verzweiflung und in den Frieden zu finden.

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